Neue Simulationen verbessern die Prognose von Schnee, Eis- und Gesteinslawinen
Ein neues, von ETH- und SLF-Forschenden entwickeltes 3D-Simulationstool ermöglicht deutlich präzisere Vorhersagen komplexer alpiner Massenbewegungen – und kann damit auch das alpine Risikomanagement unterstützen.

In Kürze
- Ein neues Modell ermöglicht präzise Vorhersagen von Verlauf, Höhe und Ausbreitung alpiner Massenbewegungen wie Schnee-, Eis- und Gesteinslawinen.
- Das 3D-Simulationstool hat seine hohe Genauigkeit unter anderem bei den Bergstürzen in Brienz (GR) und Blatten (VS) unter Beweis gestellt.
- Neben exakteren Prognosen kann das Modell auch einen wichtigen Beitrag zum Risikomanagement in alpinen Regionen leisten.
Die jüngsten grossen Gesteins- und Eislawinen in den Schweizer Alpen – besonders die dramatischen Einstürze bei Brienz und Blatten – machen auch deutlich, dass ein Bedarf an weiter entwickelten Modellierungsansätzen besteht. Genauere Modelle ermöglichen nicht nur ein vertieftes Verständnis und eine präzisere Vorhersage solcher Naturgefahren, sondern sie tragen auch zu einem noch wirksameren und sichereren Management dieser Risiken in besiedelten Bergregionen bei.
«Klassische Modelle sind sehr nützlich für erste Einschätzungen. Viele von ihnen stossen jedoch an Grenzen, wenn das Gelände – wie in Blatten – stark zerklüftet und unregelmässig ist. In solchem Gelände bewegt sich die Sturzmasse in viele Richtungen gleichzeitig, was für einfache Berechnungen schnell zu komplex wird.» Zu diesem Schluss kommt Johan Gaume, Professor für Alpine Massenbewegungen an der ETH Zürich und am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF. Bei den klassischen Modellen handelt es sich um sogenannte Modelle mit gemittelter Tiefe (engl. depth-averaged model). Diese berechnen nicht jede einzelne Bewegung im Inneren einer Lawine oder einer Rutschung, sondern eine Art «Durchschnittsströmung», und sie beschreiben, wie schnell und wie hoch die gesamte Masse ist und in welche Richtung sie sich über den Grund bewegt.
Johan Gaume und seine Kolleg:innen veröffentlichten 2022 eine wegweisende wissenschaftliche Publikation mit dem Titel Towards a Predictive Model for Alpine Mass Movements and Process Cascades (deutsch: Auf dem Weg zu einem Vorhersagemodell für alpine Massenbewegungen und Prozessverkettungen).
Mit ihrem neu entwickelten 3D-Simulationstool konnten sie mehrere Bergkatastrophen realistisch nachbilden, darunter die Fels- und Eislawine am Piz Cengalo 2017, die Fels- und Schneelawine vom Flüela Wisshorn 2019, den berüchtigten Vajont-Erdrutsch von 1963 mit nachfolgender Flutwelle im Stausee und die Eis- und Schneelawine von Whymper 2020.
Auch wenn diese Simulationen aufzeigten, wie leistungsfähig das Modell ist, so wurden sie doch erst nach den Ereignissen durchgeführt – das machte es schwierig, ihnen eine echte Vorhersagekraft für den Realfall zuzuschreiben.
Brienz – der erste echte Test der Genauigkeit
Die praktische Bewährungsprobe fand 2023 statt, als das Dorf Brienz wegen eines drohenden Bergsturzes am Berghang über dem Dorf evakuiert wurde. Gestützt auf ihr Modell führten die Forschenden sogenannte «Blind-Simulationen» durch – das bedeutet, dass sie das Modell exakt so laufen liessen, wie sie es ursprünglich entwickelt hatten, ohne vorher die Einstellungen extra auf den Bergsturz anzupassen, der später folgte.
Dieses Vorgehen zeigte ihnen, dass das Modell zuverlässig funktionierte und nicht nur auf eine bestimmte Situation zugeschnitten war. Die Menge des sich lösenden Materials schätzten sie anhand der Bewegungen und zeitlichen Veränderungen der Bergoberfläche. Den Gleitwiderstand gegen das Abrutschen des Gesteins schätzten sie vorsichtig anhand von Gesteinstests.
«Unsere Simulation sagte voraus, dass die entstehende Lawine nur wenige Dutzend Meter vor den ersten Häusern zum Stillstand kommen würde. Diese Ergebnisse wurden informell mit den kantonalen Behörden geteilt und entsprachen letztlich sehr genau dem tatsächlichen Ausmass des Bergsturzes", sagt Johan Gaume.
Eine weitere kritische Situation entstand im vergangenen Mai in Blatten, als sich abzeichnete, dass das Walliser Dorf evakuiert werden musste, weil sich die Gefahr eines massiven Eis- und Felssturzes erhärtet hatte.
Auch ohne offiziellen Auftrag oder direkten Kontakt zu den Walliser Behörden, führten Gaume und seine Kollegen auch hier Simulationen durch. Ihr Vorhaben war es, ihr Vorhersagemodell in einem Szenario zu testen, das noch komplexer und labiler war als das von Brienz – schliesslich spielte in Blatten neben Felsen und Wasser auch Eis eine Rolle, und das Gelände ist sehr komplex.
Gesteins- und Eislawine in Blatten genau modelliert
«Angesichts der dramatischen Situation in Blatten und der Neuartigkeit unseres Modellierungsansatzes sind wir sehr vorsichtig vorgegangen und haben das Modell einem strengen Überprüfungsprozess unterzogen, um seine Genauigkeit und Zuverlässigkeit sicherzustellen», betont Gaume. Die Forschenden modellierten die Freisetzung eines Gemischs aus 10 Millionen Kubikmetern Gestein und Eis. Dabei gingen sie davon aus, dass das herabstürzende Gestein den Gletscher entweder mitreissen oder zum Einsturz bringen würde.
Diese Volumenschätzung beruhte auf den Schätzungen von Expert:innen, die das Felsvolumen auf 3 bis 5 Millionen Kubikmeter bezifferten, sowie auf der bekannten Grösse des Gletschers von geschätzten 5 Millionen Kubikmetern. Diese Schätzung stimmte gut mit den 9,3 Millionen Kubikmetern Gesteins-, Schutt- und Eisvolumen überein, die Glaziolog:innen der ETH Zürich und des SLF unter der Leitung von Daniel Farinotti in der Analyse nach dem Ereignis ermittelten (vgl. Faktenblatt in der ETH-News vom 4. Juni 2025).
Für den sogenannten Reibungskoeffizienten, der angibt, wie leicht eine herunterkommende Masse über den Untergrund gleitet, wählten die Forscher einen Wert von 0,2 – das ist eine vorsichtige Schätzung, die durch die Erfahrungen aus vergangenen Fels- und Eislawinen gut gestützt wird (siehe Grafik). Obwohl dieser Wert etwas niedriger ist als der Wert, der am besten zu früheren realen Ereignissen passt (0,25), begründen die Forschenden ihre Wahl mit der historischen Bandbreite und damit, dass einige frühere Lawinen einen noch geringeren Gleitwiderstand aufwiesen.


Die Farben geben die Höhe der Sturzmasse an.
(Bild: ETH Zürich / WSL-Institut SLF)
Modell erfasst auch Stosswelleneffekte
In den vergangenen Wochen überprüfte das Team die ursprünglichen, unveröffentlichten Simulationen erneut und stellte fest, dass ein etwas höherer Wert beim Reibungskoeffizienten von 0,23 die Übereinstimmung noch weiter verbesserte. Zudem zeigte sich erneut, dass das Modell in der Lage ist, Prozessverkettungen in komplexem, steilem Gelände realistisch abzubilden.
«Wir haben insgesamt eine Vorhersagegenauigkeit erreicht, mit der unser Modell künftig genauere Einschätzungen komplexer alpiner Massenbewegungen ermöglicht – sowohl im Hinblick darauf, wie weit sie sich den Hang hinunter ausbreiten können als auch darauf, wie viel Fläche sie voraussichtlich im Talboden bedecken», erklärt Gaume.
«Wir verfügen nun über ein zuverlässiges, einsatzbereites Instrument, mit dem wir die Behörden durch Simulationen unterstützen können, um die möglichen Folgen bevorstehender alpiner Massenbewegungen einzuschätzen», fügt er hinzu und merkt an, dass diese wissenschaftlichen Simulationen weder mit den Walliser Behörden geteilt wurden noch Teil der laufenden offiziellen Untersuchungen und des Risikomanagements sind.
Wie in der Realität zeigen die Simulationsergebnisse, dass der grösste Teil von Blatten zerstört wird, und dass der Weiler Weissenried nur knapp von der herabstürzenden Fels- und Eismasse verschont bleibt. Das Modell zeigt sehr präzise eine Ausbreitung der Sturzmasse von 1,2 Kilometern auf der Südwestseite des Tals und 700 Metern auf der Nordostseite – Werte, die sich im Vergleich zur tatsächlichen Katastrophe als sehr genau erweisen.
Ein Schlüsselfaktor im Fall des Birchgletschers oberhalb von Blatten war die Komplexität des Geländes: Der Eis- und Geröllstrom begann in einem relativ offenen Gebiet, verengte sich dann stark und endete in einer Schlucht, die nicht in der ursprünglichen Bewegungsrichtung lag. Dies erzeugte einen Stosswelleneffekt, durch den ein Teil der abfliessenden Sturzmasse in die Luft geschleudert wurde (wie auf Videoaufnahmen des Ereignisses zu sehen ist) – dieses Phänomen können herkömmliche Modelle in der Regel nicht erfassen. Dabei erreichten Berichten zufolge manche Partikel Höhen von über 100 Metern über der Geländeoberfläche.
Die in der Ingenieurpraxis weit verbreiteten Werkzeuge zur Modellierung von Schneelawinen, Steinlawinen und Murgängen beruhen in der Regel auf zweidimensionalen, «tiefengemittelten» Methoden. Diese gehen davon aus, dass der Fluss aus Gestein und Wasser flach ist und ständig im Kontakt mit dem Gelände bleibt, was zu einer kontinuierlichen Reibung führt.
«Im Gegensatz dazu lässt es unser 3D-Modell zu, dass sich Partikel von der Oberfläche ablösen. Dadurch verringert sich die Bodenreibung und auch Phasen, in denen das Material durch die Luft fliegt, lassen sich zutreffend erfassen. Das ist ein entscheidender Faktor, um das Fliessverhalten und die Ausbreitung von Abgängen in steilem oder komplexem Gelände zu simulieren», erklärt Gaume.
Präzisere Modellierung fürs Gefahrenmanagement
Diese Modelle liefern realistischere Einblicke in die Strömungsdynamik, die Aufprallzonen und die Auslaufdistanzen und ermöglichen so letztlich fundiertere Entscheidungen und eine wirksamere Risikominderung. «Unser Ziel ist es nicht, bestehende 2D-Tools zu ersetzen, sondern eine ergänzende Lösung anzubieten, wenn klassische Modelle an ihre Grenzen stossen. Wir arbeiten aktiv daran, unser Modell für Praktiker:innen und Behörden zugänglich und nutzbar zu machen», erklärt Gaume.
«Wir haben grössten Respekt davor, wie hervorragend die Behörden im Lötschental und in Brienz die Katastrophe bewältigt haben – und weiterhin bewältigen – und wir empfinden tiefes Mitgefühl für die Bewohnerinnen und Bewohner, die ihr Zuhause und ihr Hab und Gut verloren haben», betont Gaume. «Tragischerweise hat der Gletscherabbruch auch ein Menschenleben gefordert – was uns schmerzlich daran erinnert, dass Naturkatastrophen für die Menschen sehr reale Folgen haben können.» Das bestärkt den Forscher umso mehr darin, alles dafür zu tun, um die Vorhersage und Frühwarnung solcher Ereignisse in Zukunft noch wirksamer zu machen.
Wenn er an die frühen Phasen der Modellierung der Gesteins- und Eislawine zurückdenkt, erinnert sich Gaume an das beklemmende Staunen, das er empfand, als die Simulationen erstmals eine mögliche Zerstörung des Dorfes anzeigten: «Die ersten Ergebnisse erschienen mir ziemlich unrealistisch, vor allem wegen der starken Aufwärtsströmung am Hang in Richtung Weissenried. Hätte ich die Möglichkeit gehabt, den Ort vor der Simulation zu besichtigen, wären mir diese Ergebnisse angesichts der Höhenlage des Dorfes im Verhältnis zur Lonza wahrscheinlich noch weniger plausibel erschienen. Ich hielt es daher für unerlässlich, sie mit meinen Kollegen zu besprechen, bevor ich weitere formale Schritte einleitete.»
Mit ihrem neu entwickelten Modell haben die Forschenden der ETH und des SLF einen wichtigen Schritt gemacht, um 3D-Simulationswerkzeuge für künftige Gefahrenbeurteilungen – besonders in komplexem alpinem Gelände – noch präziser zu machen und damit dazu beizutragen, das Ausmass von Schäden und Verlusten in Zukunft zu verringern.
Literaturhinweise
Cicoira, A, Blatny, L, Li, X, Trottet, B, Gaume,J. Towards a predictive multi-phase model for alpine mass movements and process cascades. In: Engineering Geology, Vol. 310, 2022. DOI:externe Seite https://doi.org/10.1016/j.enggeo.2022.106866.
Blatny L, Gray JMNT, Gaume J. A critical state μ(I)-rheology model for cohesive granular flows. Journal of Fluid Mechanics. 2024; 997: A67. DOI: externe Seite 10.1017/jfm.2024.643