Von Zuckerbäckern und Robotern: Der Weisse Turm von Mulegns ist eröffnet
Heute wurde in Mulegns unter Beisein von Bundesrat Guy Parmelin und ETH-Präsident Joël Mesot der «Tor Alva» feierlich eingeweiht. Der rund 30 Meter hohe, weiss schimmernde Turm ist der höchste 3D-gedruckte Bau der Welt.

In Kürze
- In Mulegns wurde mit dem «Tor Alva» der höchste 3D-gedruckte Turm der Welt eingeweiht.
- «Tor Alva» zeigt, wie digitales Bauen tragende Strukturen ohne Schalung ermöglicht.
- Initiiert von der Kulturstiftung Nova Fundaziun Origen in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich, soll das Bauwerk kulturelle Impulse setzen und das von Abwanderung bedrohte Dorf beleben.
Emsiges Treiben herrscht an diesem Frühlingstag im sonst stillen Mulegns. Besucher:innen aus der ganzen Schweiz und dem Ausland sind gekommen, um den Weissen Turm erstmals in der Realität zu sehen. Erst am Vorabend wurde die Verhüllung per Helikopter entfernt – und gab den Blick frei auf das Bauwerk, das sich nun weiss und filigran in die Berglandschaft am Julierpass einfügt.
Mit dem «Tor Alva» erhält das Bergdorf, das von Abwanderung bedroht ist – nunmehr 11 Menschen leben heute in Mulegns – ein neues architektonisches Wahrzeichen und einen Pionierbau der digitalen Fabrikation. Die Kulturstiftung Nova Fundaziun Origen hat das Projekt als Bauherrin in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich realisiert. Origen will damit kulturelle Impulse setzen, um das Dorf neu zu beleben. Ab dem 23. Mai werden im Weissen Turm täglich Führungen angeboten; ab Juli dient er zudem als Veranstaltungsort für szenische Formate. Rund fünf Jahre soll der Weisse Turm in Mulegns stehen. Danach kann er demontiert und woanders wieder aufgebaut werden.
Der Weisse Turm von Mulegns - Impressionen
Digitale Handwerkskunst
In seiner Form erinnert das Bauwerk an eine Zuckerbäckertorte – eine Referenz an die Emigrationsgeschichte der Bündner Zuckerbäcker, die einst von hier aus in ganz Europa tätig waren. Über vier Stockwerke hinweg wachsen 32 skulpturale Säulen aus weissem Beton in die Höhe, werden dabei immer schlanker und verzweigter, bis sie sich im Kuppelraum fast baumartig auffächern.
Entworfen wurde der Turm vom Architekten Michael Hansmeyer und dem ETH-Professor für digitale Bautechnologien Benjamin Dillenburger. Statt auf klassische Beton-Schalungen zu setzen, entschieden sie sich für ein additives Fertigungsverfahren: Ein Industrieroboter trug den Beton Schicht für Schicht auf – frei in der Form und ohne stützende Gussformen. Die Formgebung beruht auf komplexen Algorithmen, die Ornament und Struktur zugleich generieren.
Neuer Beton, neue Technik
Voraussetzung für diesen Prozess war ein eigens entwickelter Beton. Er musste weich genug sein, um die feinen Strukturen zu modellieren, und gleichzeitig rasch aushärten, um tragfähig zu bleiben. Robert Flatt, ETH-Professor für Physikalische Chemie von Baustoffen, entwickelte dafür eine neuartige Mischung. Kurz vor der Extrusion werden zwei Zusatzstoffe beigemischt, die das charakteristische tropfenartige Relief an den Säulen ermöglichen.
Zwei Roboter arbeiteten Hand in Hand
Besonders an diesem Projekt ist, dass die 3D-gedruckten Elemente nicht nur als Hülle dienen, sondern erstmals auch eine tragende Funktion übernehmen. Bislang fehlten geeignete Verfahren, um gedruckten Beton wirksam zu bewehren. Ein neu entwickeltes Bewehrungskonzept macht dies nun möglich – umgesetzt mit einer robotergestützten Innovation: Während ein Roboter den Beton schichtweise aufträgt, platziert ein zweiter alle 20 Zentimeter ringförmige Armierungseisen in die frische Struktur.
Die sogenannte «mitwachsende Bewehrung» wurde von den ETH-Professoren Walter Kaufmann, Robert Flatt und Benjamin Dillenburger gemeinsam mit dem ETH-Spin-off Mesh und der Firma Zindel United entwickelt.
Diese horizontale Bewehrung in Form von Ringen wird durch vertikale Längsbewehrungsstäbe ergänzt, die nach dem Druck eingebracht werden. Ergänzend dazu entwickelten die Forschenden ein neues Testverfahren, mit dem sich die Tragfähigkeit von 3D-gedrucktem Beton erstmals verlässlich berechnen lässt – eine zentrale Voraussetzung, um solche Bauwerke künftig genauso sicher bemessen zu können wie herkömmliche Stahlbetonkonstruktionen.
Fünf Monate dauerte es, die Säulenelemente auf dem ETH Campus Hönggerberg zu drucken. Anschliessend wurden diese in Savognin zusammengefügt und per Schwertransport über die Julierstrasse nach Mulegns gebracht (mehr dazu in dieser Reportage).
Stimmen zur Eröffnung
Zur Eröffnung angereist sind neben zahlreichen Projektpartnern auch prominente Gäste aus Politik, Wissenschaft und Kultur. Ihre Einschätzungen spiegeln die Vielschichtigkeit des aussergewöhnlichen Bauwerks wider.
ETH-Präsident Joël Mesot hob die enge Zusammenarbeit von Forschung und Praxis hervor: «Der Turm vereint neustes Wissen aus der Forschung mit dem Know-how von Firmen und Fachleuten. Den Turm hier am Fusse des Julierpasses zu errichten, heisst für unsere Forschenden auch, wichtige Erfahrungen aus der Praxis sammeln zu können.»
Giovanni Netzer, Theaterintendant und Gründer der Kulturstiftung Origen, sieht im Turm mehr als ein technisches Meisterwerk: «Die Wechselwirkung zwischen digitaler Technologie, erfahrenem Handwerk, kulturhistorischer Relevanz und künstlerischer Formsuche hat mich fasziniert. Der Weisse Turm ist ja nicht nur eine technische Errungenschaft: Er inspiriert die Bauwelt, fördert nachhaltiges Handeln, fördert einen nachhaltigen Tourismus, schafft neuen Kulturraum und hilft einem aussterbenden Dorf zu überleben. Das ist grossartig.»
Mit einer Würdigung der übergreifenden Zusammenarbeit betonte Bundesrat Guy Parmelin schliesslich die Bedeutung des Projekts für Mulegns und die Region: «Der mit 3D-Druck hergestellte Weisse Turm in Mulegns erinnert an die Tradition der Bündner Zuckerbäcker und verbindet Innovation und Teamleistung: neuartige Konzepte und technisches Know-how der ETH-Forschenden, visionäre Kraft der Stiftung Origen und Unterstützung von Behörden, Firmen und Privatpersonen haben das Grossprojekt ermöglicht. Ich freue mich, dieses Bauwerk in Mulegns einweihen zu können und bin überzeugt, dass es zu einem Ort der kulturellen und touristischen Begegnungen werden wird.»
Mit dem Weissen Turm ist in Mulegns nicht nur ein kultureller Ort entstanden, sondern auch ein konkreter Ausdruck dessen, was digitales Bauen heute leisten kann – präzise und mit gestalterischer Offenheit für das Unerwartete.



