«Die fehlenden Visionen haben die Verkehrspolitik in die Sackgasse geführt»
Städte können ihre Radwegenetze für E-Bikes und Velos deutlich ausbauen – ohne zusätzlichen Stau auf den Strassen. Zu diesem Ergebnis kommt das ETH-Forschungsprojekt E-Bike-City. Projektleiter und Verkehrswissenschaftler Kay Axhausen erläutert die Auswirkungen auf Verkehr, Klima und Kosten.
In Kürze
- Über drei Jahre erforschten sieben ETH-Professuren, wie Städte aussehen könnten, wenn Velo, Mikromobilität und ÖV Priorität erhalten und was Städte machen können, damit die Verkehrspolitik zu den Klimazielen beiträgt.
- Die Ergebnisse zeigen: Auch bei wachsender Bevölkerung lässt sich städtische Mobilität bis 2050 nachhaltig und effizient gestalten, wenn die Hälfte des Strassenraums dem Langsamverkehr vorbehalten wird.
- In Zürich etwa könnte der Anteil der Veloinfrastruktur von 12,1 Prozent auf 54,3 Prozent steigen – durch Einbahnstrassen, ÖV-Trassen, Velospuren, Trottoirs sowie die Umnutzung von Parkplätzen.

Was ist die E-Bike-City: Vision, Forschungsprojekt oder Politikempfehlung?
Kay Axhausen: «E-Bike-City» ist ein Forschungsprojekt von sieben ETH-Professuren. Wir haben untersucht, wie städtische Verkehrsräume gestaltet sein müssen, wenn sie konsequent auf Fuss, Velo- und öffentlichen Verkehr ausgerichtet sind.
Zudem wollten wir eine Vision für die Verkehrsplanung entwerfen – als Impuls für eine Verkehrspolitik, die über den Status quo hinausdenkt. Die fehlenden Visionen haben die Verkehrspolitik in eine Sackgasse geführt, wie der im letzten Jahr von der Schweizer Stimmbevölkerung abgelehnte Autobahnausbau zeigt. Mit der E-Bike-City legen wir eine Vision vor, die praktikabel ist.
Die Zielsetzung dieses Forschungsprojekts ist politisch umstritten.
Im Projekt E-Bike-City standen nicht klassische Ziele der Verkehrsplanung wie kürzere Fahrzeiten oder optimierte Verkehrsflüsse im Fokus, sondern die Auswirkungen des Klimawandels. Wir untersuchten, was Städte machen können, damit die Verkehrspolitik zu den Klimazielen beiträgt. Die E-Bike-City ist eine Vision – ein Denkmodell, das zur Diskussion anregen soll. Wir verstehen uns als Forschende: Wir machen Vorschläge, nicht Vorschriften.
Wie lautet Ihre Bilanz nach drei Jahren Forschung zur E-Bike-City?
Eine Stadt, die auf E-Bikes ausgerichtet ist, kann funktionieren – anders, aber effizient. Zwar müssten sich manche mehr umstellen als andere, doch insgesamt überwiegen die Vorteile. Für Autofahrende wäre eine E-Bike-City mit Einschränkungen verbunden, doch sie schafft dafür neue Alternativen und erhöht die Lebensqualität.
Was unterscheidet eine E-Bike-City von einer Stadt mit heutigen Verkehrsinfrastrukturen?
Die Hälfte des Strassenraums wäre dem Langsamverkehr vorbehalten. Das erhöht die Sicherheit für Velofahrende, die heute oft zu nahe beim motorisierten Verkehr fahren müssen. Für Autofahrende verlängerten sich durch die Halbierung ihres Raums zwar die Fahrstrecken, doch alle Adressen und privaten Parkplätze blieben erreichbar – auch für Polizei, Rettungsdienste und Lieferverkehr. Der öffentliche Verkehr würde nicht eingeschränkt. Deshalb ist die E-Bike-City insgesamt funktionsfähig.






Wie sieht die E-Bike-City aus der Sicht der E-Bike- oder Velofahrenden aus?
Radfahrende erhielten deutlich mehr Platz auf einer eigenen Fahrspur, die deutlich mehr Abstand zu Autos und LKW hätte. Das erhöht ihr Sicherheitsgefühl, und weil die Radspuren breiter wären, hätten Radfahrende mehr Möglichkeiten, ihr eigenes Tempo zu wählen, und weniger Konflikte untereinander.
Welchen Lösungsansatz bietet die E-Bike-City für die verschiedenen Geschwindigkeiten von E-Bikes, Scootern und batterielosen Velos?
Mehr Platz erleichtert das Überholen für Radfahrende und senkt das Unfallrisiko. Zugleich müssten sich in einer E-Bike-City, in der viel mehr Menschen unterwegs sind, neue Verhaltensmuster etablieren. Die Durchschnittsgeschwindigkeit aller Verkehrsteilnehmenden dürfte in der E-Bike-City eher höher sein als heute. Wir schätzen 16 bis 17 Stundenkilometer je nach Verkehrsverhalten. Entscheidend ist, wie sich die Menschen umgewöhnen, vor allem die Autofahrenden.
Was macht diese Umgewöhnung zur Herausforderung?
Das Auto ist für die meisten Haushalte das teuerste Konsumgut und fest im Alltag verankert. Zeitplanung und Lebensstil sind oft eng damit verbunden. Ein Umstieg fällt daher schwer – besonders bei teuren Fahrzeugen. In einer Studie zeigten wir: Wer grosse PWs besitzt, zögert stärker, aufs Velo umzusteigen. Wenn wir jedoch die Klimaziele ernst nehmen, braucht es eine veränderte Verkehrspolitik.
Welche Chancen geben Sie einer Realisierung der E-Bike-City?
Die Umsetzung der E-Bike-City erfordert in der Schweiz eine Volksabstimmung. Schweizweit besitzen rund 70 Prozent der Erwachsenen ein Auto. In der Stadt Zürich sind es etwa 40 Prozent. Ein grosser Teil der Bevölkerung müsste also überzeugt werden, dass ein velofreundlicher Stadtumbau Vorteile bringt – zum Beispiel für die Gesundheit.
An welche gesundheitlichen Auswirkungen denken Sie?
Weniger Unfälle, weniger Emissionen und mehr Bewegung im Alltag. Politisch entscheidend wird sein, ob sich eine Mehrheit von diesen Vorteilen überzeugen lässt.
Wie wird der Platz in der E-Bike-City zwischen Velos und Fussverkehr sinnvoll aufgeteilt?
Die Trottoirs bleiben gleich breit wie heute. Zusätzlich würde der Strassenraum so umgestaltet, dass eigene Spuren für E-Bikes und Velos entstehen – getrennt vom Fuss- und Autoverkehr. Das verringert die Vermischung und erhöht die Sicherheit. Heute weichen viele Velofahrende aus Sicherheitsgründen aufs Trottoir aus.
Wie wirkt sich eine E-Bike-City auf den Autoverkehr und die täglichen Staus aus?
Im Konzept der E-Bike-City werden die meisten Strassen zu einspurigen Einbahnstrassen für Autos umgestaltet. Das gibt allen Verkehrsteilnehmenden ausreichend Raum. Verkehrssimulationen für Zürich zeigen nämlich: Rund die Hälfte der mit dem Auto zurückgelegten Personenkilometer lässt sich mit dieser Strassenraumgestaltung auf ÖV, E-Bikes, Velos und Zufussgehen verlagern.
Wie lässt sich der Stadtverkehr nur mit Einbahnstrassen für Autos organisieren? Heute gibt es eine Hierarchie von Strassenarten. In Zürich etwa nationale Autobahnen, kantonale Hochleistungs- und Hauptverkehrsstrassen und städtische Quartierstrassen.
Nicht alle Hauptstrassen würden zu Einbahnstrassen, aber gezielte Anpassungen schüfen Raum für den Langsamverkehr, ohne den Zugang für den Autoverkehr einzuschränken. Wie das geht, haben wir in einem Plan für Zürich gezeigt.
Gibt es diesen Plan nur für Zürich?
Ja, Zürich ist unser Anwendungsfall. Doch das Konzept lässt sich auf andere Städte übertragen. ETH-Studierende haben bereits ähnliche Pläne für Basel und Aarau entwickelt.



Welche Anpassungen erfordert die E-Bike-City bei Signalisation und Verkehrsregulierung?
Die Lichtsignalprogramme würden an den neu gestalteten Strassenraum angepasst. Die Logik der Signalisation bliebe jedoch erhalten: Sie soll weiterhin Wartezeiten minimieren und den Verkehr in Spitzen- wie Randzeiten effizient steuern.
Was ändert sich für den ÖV in der E-Bike-City?
Grundsätzlich bleibt der öffentliche Verkehr unverändert. Die Trassen bleiben bestehen. Da der ÖV an Marktanteil gewinnen dürfte, müsste er seine Taktfrequenz erhöhen, um die steigende Nachfrage zu decken.
Ist die E-Bike-City eine Reaktion auf das Bevölkerungswachstum in Schweizer Städten?
Auslöser des Projekts war der Klimawandel. Eine Bevölkerungszunahme erhöht die verkehrsbedingten Emissionen. Die E-Bike-City stellt eine Lösung für wachsende Städte dar, denn Menschen in urbanen Gebieten legen im Durchschnitt kürzere Strecken zurück. Für kurze Strecken sind Fusswege, Fahrräder und ÖV attraktiver als Autos.
Was sind die Auswirkungen einer E-Bike-City auf Umwelt und Kosten?
Die CO₂-Emissionen könnten um rund 40 Prozent sinken. Gleichzeitig lassen sich durch weniger Unfälle jährlich bis zu 76 Mio. Schweizer Franken einsparen. Auch für Haushalte wird Mobilität günstiger: Autofahren mit Mittelklassewagen kostet etwa 75 Rappen pro Kilometer, der ÖV rund 20 Rappen, das Velo noch weniger. Insgesamt hat die E-Bike-City das Potenzial, heutige Schäden von rund 500 Mio. Schweizer Franken in einen langfristigen Nutzen von etwa 1 Mrd. Schweizer Franken zu überführen.
Was kostet ein E-Bike-orientierter Stadtumbau?
Die Umsetzung der E-Bike-City würde je nach Baustandards rund 300 bis 650 Millionen Franken kosten. Investitionen in neue Strassen oder den Ausbau des ÖV sind aber auch teuer. Im Verhältnis dazu ist die E-Bike-City eine vergleichsweise günstige Lösung.
Wie steht es um die Akzeptanz der E-Bike-City?
In einer repräsentativen Umfrage mit 6500 Teilnehmenden befürworteten 44 Prozent die E-Bike-City, ebenso viele lehnten sie ab. Viele erachten die Massnahmen als wirksam, äussern jedoch Bedenken hinsichtlich Fairness und möglicher Einschränkungen im Alltag.
Müsste die E-Bike-City genauso umgesetzt werden wie von der Forschung beschrieben oder könnten Gemeinden das Konzept flexibel anpassen?
Anpassungen sind möglich und wünschenswert für jede Gemeinde. Zusammen mit Gemeinden werden die Konzepte der E-Bike-City derzeit getestet und weiterentwickelt. Dabei zeigt sich, dass in der Praxis Verfeinerungen und Erweiterungen nötig sind. Vor einer Umsetzung wären Informationskampagnen und Volksabstimmungen erforderlich.
Zur Person und zum Forschungsprojekt E-Bike-City
Kay Axhausen ist emeritierter Professor für Verkehrsplanung an der ETH Zürich und Projektleiter von E-Bike-City. Das interdisziplinäre Lighthouse Projekt E-Bike-City des Departement Bau, Umwelt und Geomatik (D-BAUG) wurde auch vom Bundesamt für Energie gefördert.
Die Vision und die Resultate wurden in Publikationen, Videos, Visualisierungen und Plänen auf öffentlichen Websites aufbereitet. Ausserdem liegt jetzt online der Abschlussbericht mit den Resultaten vor.
E-Bike-City: Resultate & Zukunft
Am 4. Juni 2025 findet am Nachmittag auf den Campus Hönggerberg der ETH Zürich des Abschlussveranstaltung des E-Bike-City-Projekts statt. Die anmeldungspflichtige Veranstaltung bildet den Abschluss des dreijährigen Forschungsprojektes des D-BAUG. An der Veranstaltung werden die Ergebnisse vorgestellt und mit Forschenden, Fachpersonen und Politiker:innen diskutiert. Für Interessierte sind noch Online-Plätze für das Livestreaming verfügbar.