Karten als Instrument der Macht

Lorenz Hurni macht sich Gedanken darüber, was Landkarten ausmacht und warum sie auch Machtinstrumente sind – und verrät wie man es beim Schweizer Weltatlas mit Namensstreitigkeiten und einseitigen Umbenennungen hält.
Der Begriff «Landkarte» tönt aus heutiger Sicht etwas verstaubt und altbacken, dennoch sind Karten und kartenverwandte Produkte mehr denn je in unserem Alltag präsent. Ich denke da etwa an interaktive Kartenapps oder Navigationssysteme. Angesichts der Weltlage und der Tendenz, Orte einfach umzubenennen, lohnt es sich aus meiner Sicht, kurz innezuhalten und sich zu fragen, was eine Karte eigentlich ausmacht.
Die International Cartographic Association definierte dies 2003 in etwas verkopfter Weise: «Eine Landkarte ist ein symbolisiertes Abbild der geografischen Realität, das ausgewählte Merkmale oder Charakteristika darstellt, die aus der schöpferischen Anstrengung des Autors bei der Ausführung von Entscheidungen hervorgegangen sind (…).»1 Konkret bedeutet dies, dass es immer eine Diskrepanz zwischen der Realwelt und dem, was auf einer Karte abgebildet ist, gibt. Mein Vor-Vorgänger und Gründer des heutigen ETH-Instituts für Kartografie und Geoinformation2, Eduard Imhof, brachte es auf den Punkt: «…Karten sind neu hergestellte Welten.»3
Karten konstruieren Wirklichkeit
Landkarten jeglicher Art repräsentieren also – wie übrigens in anderen Wissenschaften auch – immer nur menschgemachte Modellvorstellungen. Damit sind sie einer gewissen Subjektivität unterworfen und dienen oft auch einem ganz bestimmten Zweck. Sie werden damit «zu machtvollen Akteuren der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit».4
Diese neuere Kritik verschiebt denn auch die Sichtweise auf Karten von einer objektiven Abbildung der Realwelt hin zu einer Konstruktion. Sprich, es geht nicht nur um die Qualität der Ausgangsdaten, sondern auch um das Umfeld und die Intentionen des Kartenmachers. Oder unverblümt auf den Punkt gebracht: «Karten sind das Produkt von Macht und sie erzeugen Macht.»5
Absichten hinter Umbenennungen
Dahinter können durchaus löbliche Absichten stehen. So trug die in der Mitte des 19. Jahrhunderts publizierte Dufourkarte – als erste einheitliche und hochqualitative Karte der Schweiz – zur Kohäsion und damit zum «nation building» des jungen Bundesstaates bei.6
Gute Absichten und Missbrauch liegen aber nahe beieinander: Goethes Zitat «Was man schwarz auf weiss besitzt, kann man getrost nach Hause tragen»7 muss auch hier kritisch hinterfragt werden. So werden die russisch besetzten und beanspruchten Gebiete der Ukraine in russischen und belarussischen Karten und Schulatlanten bereits als russisches Territorium dargestellt. Damit sollen auf dem Papier Tatsachen geschaffen werden.
Und auch die eigenmächtige Umbenennung des Golfs von Mexiko in «Golf von Amerika» durch Präsident Trump ist Ausdruck des Bestrebens, die territoriale Einflusssphäre der USA auszudehnen.
Die «United Nations Group of Experts on Geographical Names»8 hält die Mitgliedsstaaten an, Richtlinien zur Schreibweise und Verzeichnisse geografischer Namen zu erstellen. Ein verbindliches internationales Verzeichnis ist aber bezeichnenderweise immer noch «under construction». Was soll man also tun, um Karten zu erstellen, die quasi politisch neutral sind?
Grenzen ziehen nach eigenem Gutdünken
In unserer Arbeit am Schweizer Weltatlas weichen wir auf Datenbanken von Nichtregierungsorganisationen oder freiwilligen Initiativen wie Geonames9 aus, und dort hat sich der «Gulf of America» bis jetzt nicht durchgesetzt. Solche Organisationen haben den Vorteil, weniger die Interessen einzelner Akteure vertreten zu müssen, denn sie operieren mit offenen Datenbanken in gewissem Sinne multilateral.
Private Anbieter von Online-Kartendiensten wie Google entscheiden sich gerne für eine «opportunistischere» Lösung. Je nach Land und auch der Länderdomain werden den Nutzern und Nutzerinnen diejenigen Schreibweisen angezeigt, die der aktuellen Regierung genehm sind. Das geht so weit, dass auch Grenzen je nach dem entsprechenden nationalen Gusto eingezeichnet werden.
«Beim Entscheid, welche Namensschreibweise in einem Atlas zur Anwendung gelangt, sollte meiner Ansicht nach das richtige Augenmass nicht verloren gehen.»Lorenz Hurni
Die Redaktion des Schweizer Weltatlas wurde von einigen Jahren von den Botschaften von Japan und Südkorea angegangen bezüglich des Schreibweise des Meeres zwischen den beiden Ländern. Japan propagierte das «Japanische Meer», Korea das «(Koreanische) Ostmeer». Aber auch in der Schweiz kann es zu Uneinigkeit bezüglich der Bezeichnung und damit der Zugehörigkeit eines Gebiets kommen.
So findet sich auf den amtlichen Karten des Kantons Bern der Flurname «Uf der tote Äbeni», während auf denjenigen des Kantons Wallis «Glacier de la Plaine Morte» zu finden ist. Es kam sogar zu einem Gebietsstreit zwischen den beiden Kantonen, welcher 1993 vom Bundesgericht zugunsten des Kantons Bern entschieden wurde.10
Die erwähnten Gebietsstreitigkeiten sind vielleicht vordergründig mit Einflusssphären und Nationalstolz zu begründen, aber meistens stehen viel handfestere Interessen wie Rohstoffvorkommen dahinter. Bei der Plaine Morte ging es wohl vor allem um die mögliche Erweiterung eines Skigebiets und um die Nutzung der Wasserreserven im Gletscher.
Beim Entscheid, welche Namensschreibweise in einem Atlas zur Anwendung gelangt, sollte meiner Ansicht nach das richtige Augenmass nicht verloren gehen. So werden wir wohl kaum widerrechtlich angeeignete Gebiete, aber auch Regionen mit bis anhin etablierten Namen unbeschaut umbenennen, nur weil eine Partei das fordert.
Weil wir im Fall des Japanischen Meers und des (Koreanischen) Ostmeers beide Sichtweisen als berechtigt einschätzten, haben wir im Sinne eines gutschweizerischen Kompromisses beide Namen in den Schulatlas aufgenommen. Wir haben dies damit begründet, dass wir auch den Diskurs zu offenen Gebietsfragen anregen möchten. Das tut hoffentlich auch dieser Beitrag.
1 International Cartographic Association: externe Seite Mission
2 Das Institut für Kartografie und Geoinformation feiert dieses Jahr sein 100-jähriges Jubiläum, welches am 4./5. September mit einem Festsymposium auf dem Hönggerberg begangen wird. Dazu erscheint eine Festschrift.
3 Audioaufnahme (ab Min 2:39)
4 externe Seite Towards a Poststructuralist Perspective on the Making and the Power of Maps. A Response to Ball and Petsimeris. Forum Qualitative Social Research (2010)
5 Buch externe Seite Rethinking Maps. New Frontiers in Cartographic Theory. Martin Dodge, Rob Kitchin, Chris Perkins (2009)
6 Buch Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert. David Gugerli und Daniel Speich, Technikgeschichte ETH Zürich (2002)
7 Der Schüler in Goethes Faust, Szene im Studierzimmer
8 United Nations Group of Experts on Geographical Names: externe Seite UNGEGN
9 The externe Seite Geonames geographical database
10 externe Seite Bundesgerichtsentscheid zum Verlauf der Kantonsgrenzen im Bereich der Plaine Morte