Neue Verfahrensordnung wissenschaftliches Fehlverhalten verabschiedet
Am 1. Juni 2024 tritt an der ETH Zürich die neue Verfahrensordnung wissenschaftliches Fehlverhalten in Kraft. Was sich ändert und warum eine Anpassung nötig war.
Die aktuell gültige Verfahrensordnung bei Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten (RSETHZ 415) stammt aus dem Jahr 2004. Da diese seit einiger Zeit nicht mehr den heutigen Anforderungen hinsichtlich rechtlicher und fachlicher Belastbarkeit, Dauer und Transparenz entsprach, wurde die Verfahrensordnung im Rahmen einer Totalrevision auf ein neues Fundament gestellt.
Anlaufstelle bei Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten waren bisher die Vertrauenspersonen. Sie haben verschiedene Aufgaben wahrgenommen: Sie haben beraten, Fragen beantwortet, bei guten wissenschaftlichen Praxis-Konflikten (GWP-Konflikten) vermittelt, Verdachtsmeldungen auf wissenschaftliches Fehlverhalten entgegengenommen und gegebenenfalls eine informelle Vorprüfung durchgeführt. Im Rahmen der Vorprüfung wurde abgeklärt, ob als zweiter Schritt eine formale Untersuchung durch eine ad hoc Untersuchungskommission erforderlich ist. Mit diesem zweistufigen Verfahren wollte die ETH verhindern, dass Bagatellfälle gleich eine Untersuchung auslösen.
Dieses zweistufige Verfahren hat während den letzten zwanzig Jahren aber wiederholt zu Problemen geführt: die Ergebnisse der Vorprüfung waren rechtlich nicht belastbar und somit nicht beschwerdefähig. Wenn involvierte Personen das Ergebnis nicht akzeptierten, war kein Verfahrensweg vorgesehen, den sie hätten beschreiten können. Im Falle einer Untersuchung durfte sich die Untersuchungskommission nicht auf die Ergebnisse der Vorprüfung abstützen, sondern musste ganz von vorne beginnen. Zusammen mit der zeitaufwendigen Rekrutierung einer ad hoc Untersuchungskommission führte dies für die involvierten Personen zu einer langen, sehr belastenden Verfahrensdauer.
Vom zweistufigen zum einstufigen Verfahren
Ab dem 1. Juni 2024 wird das Verfahren in einer neuen Organisationsstruktur durchgeführt: Es gibt eine ständige Integritätskommission (IK), die die Untersuchungen durchführt und dabei von einer Fachstelle unterstützt wird. Diese neu geschaffene Fachstelle Wissenschaftliche Integrität (FWI) nimmt die Meldungen zu wissenschaftlichem Fehlverhalten entgegen. Zusammen mit dem oder der Vorsitzenden der IK führt sie die Zuständigkeitsabklärung und Triage durch. Die für diese Abklärungen zugrundeliegenden Definitionen für wissenschaftliches Fehlverhalten wurden weitgehend aus dem externe Seite Kodex der Akademien der Wissenschaften Schweiz (2021) übernommen.
Liegt nach diesen Definitionen ein mögliches wissenschaftliches Fehlverhalten sowie ein entsprechender Beleg vor, leitet der oder die Vorsitzende der IK die Untersuchung ein. Eine inhaltliche Untersuchung und Beurteilung, ob tatsächlich wissenschaftliches Fehlverhalten vorliegt, erfolgt dann erst durch die IK, was ein wesentlicher Unterschied zum bisherigen Verfahren darstellt.
Diverse Zusammensetzung der Integritätskommission
Die Integritätskommission (IK) wird aus ständigen Mitgliedern bestehen und von einer Juristin oder einem Juristen mit langjähriger Erfahrung in der eigenverantwortlichen Durchführung von Verfahren geleitet. Die Kommission tagt mindestens viermal jährlich und die Teilnahme an den Sitzungen ist verpflichtend. Bei Bedarf werden Expert:innen zur inhaltlichen Beurteilung dazu gezogen, da die Mitglieder der IK nicht alle Fachbereiche abdecken können. Auch so sind die Anforderungen an die Besetzung der sechs- bis zehnköpfigen Kommission hoch: Die für eine Amtszeit von vier Jahren gewählten Mitglieder müssen mindestens drei der grossen Fachgebiete Architektur und Bauwissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften und Mathematik, Systemorientierte Naturwissenschaften sowie Management- und Sozialwissenschaften abdecken, es sollen verschiedene Geschlechter vertreten sowie mindestens zwei ETH-externe Mitglieder in der IK vertreten sein.
Transparenz durch Publikation des Untersuchungsberichtes
Zu jeder Untersuchung erstellt die Integritätskommission einen Untersuchungsbericht. Die IK wird bei der Untersuchung und dem Erstellen des Berichtes von der Fachstelle Wissenschaftliche Integrität unterstützt. Nach Abschluss der Untersuchung kann die IK dem neu etablierten Ausschuss der Schulleitung Massnahmen empfehlen, beispielsweise zur Korrektur des wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Der Ausschuss der Schulleitung hört die beschuldigte Person nochmals an und entscheidet über das weitere Vorgehen und allfällige Massnahmen. Im Ausschuss der Schulleitung ständig vertreten sind der Vizepräsident für Forschung, der Rektor und die Vizepräsidentin für Personalentwicklung und Leadership. Betrifft das wissenschaftliche Fehlverhalten Professor:innen wird auch der Präsident beigezogen.
Nach Abschluss des Verfahrens wird der Untersuchungsbericht in anonymisierter Form auf der Webseite der Fachstelle Wissenschaftliche Integrität publiziert. Nur in gut begründeten Ausnahmen wird von einer Publikation abgesehen.
Raffael Iturrizaga hat die Revision der Verfahrensordnung verantwortet und leitet die Fachstelle Wissenschaftliche Integrität. Die Unterstützung der neuen Integritätskommission ist eine zentrale Aufgabe der Fachstelle.
Der Umgang mit möglichem wissenschaftlichem Fehlverhalten ist ein wichtiges Thema für eine Hochschule. Wie waren die Reaktionen in der Vernehmlassung auf die neue Verfahrensordnung?
Die Rückmeldungen waren weitgehend zustimmend und beinhalteten konstruktive Anpassungsvorschläge, von denen wir einen wesentlichen Teil berücksichtigen konnten. Die meisten sehen im einstufigen Verfahren und der ständigen Integritätskommission (IK) eine Chance für ein belastbares und im Vergleich zu heute deutlich effektiverem Vorgehen. Einige waren nicht mit allen Definitionen des wissenschaftlichen Fehlverhaltens einverstanden. Diese haben wir aber vom Kodex der Akademien übernommen, um uns auf eine national einheitliche Grundlage abzustützen. Daher konnten wir auf die teilweise durchaus berechtigen Einwände nicht eingehen. Wir werden das Feedback aber an die Akademien der Wissenschaften Schweiz zurückspielen.
Bei einigen Vernehmlassungsteilnehmenden ist ausserdem der Eindruck entstanden, der Vorsitz der IK hätte zu viel Entscheidungsmacht über das Einleiten einer Untersuchung. Möglicherweise wurde dabei die Rolle dieser Person missverstanden. Sie fällt zu dem Zeitpunkt keine inhaltliche Beurteilung. Sie prüft rein formal, ob sich die Meldung auf ein mögliches wissenschaftliches Fehlverhalten bezieht und ob es Belege gibt, auf die man zugreifen kann. Daher ist es auch wichtig, dass diese Person einen juristischen Hintergrund und eine mehrjährige Erfahrung im Führen von Verwaltungsverfahren hat. Bei Bedarf z.B. zum inhaltlichen Verständnis der Meldung können auch Kommissionsmitglieder beigezogen werden.
Wie werden Beratung und Unterstützung in Konfliktsituationen bei Themen wissenschaftlicher Integrität in Zukunft sichergestellt?
Beratung und Prävention sind zentrale Aufgaben zur Förderung der wissenschaftlichen Integrität. Im Moment werden diese von unterschiedlichen Stellen wahrgenommen. Neben den Vertrauenspersonen, die bisher einen Grossteil der operativen Aufgaben übernommen haben, gibt es auch noch die Kommission für gute wissenschaftliche Praxis (GWP), die aus Vertreter:innen der Departemente besteht. Mit Änderung der Verfahrensordnung muss dieses Zusammenspiel neu geregelt werden. Der Vizepräsident für Forschung hat deshalb die GWP-Kommission beauftragt, unter Einbezug der beteiligten Stellen Optionen zu erarbeiten, wie ein «Research Integrity Advisory Service» (RIAS) etabliert werden kann. Im Frühjahr wird die GWP-Kommission der Schulleitung ihre Vorschläge vorstellen.
Der Umgang mit Konflikten, Problemen oder Streitigkeiten bei GWP-Themen z.B. im Zusammenhang mit Aspekten der Autorschaft oder der Datenverwendung, wird gemeinsam mit der laufenden Revision des Reglements betreffend «Meldungen von Angehörigen der ETH Zürich über unangemessenes Verhalten (RSETHZ 615)» angeschaut. Dessen Revision wird ebenfalls im Frühjahr in der Schulleitung behandelt.
In der neuen Verfahrensordnung ist die Publikation der Untersuchungsberichte in der Regel fest eingeplant. Warum?
Transparenter zu werden war eines der Kernelemente der Totalrevision. Ausserdem sehen wir es als Chance, dass die Forschungsgemeinschaft aus den Untersuchungen lernen kann. Wissenschaftliches Fehlverhalten ist ja nicht immer ein absichtliches Vorgehen. Manchmal sind es auch Dinge, bei denen sich die Forschenden unsicher sind über das richtige Verhalten bzw. Vorgehen.
Die Publikation des anonymisierten Untersuchungsberichtes stiess übrigens bei der Vernehmlassung auf deutliche Zustimmung. Es gab allerdings Bedenken, ob Verdachtsfälle, bei denen sich ein wissenschaftliches Fehlverhalten nicht bestätigt, auch publiziert werden sollen. Es sei nicht auszuschliessen, dass auch bei anonymisierten Fassungen Rückschlüsse auf die involvierten Personen gezogen werden können. Diese könnten somit unberechtigten Schaden erleiden. Wir haben diese Bedenken aufgenommen, indem die Publikation nicht mehr automatisch unmittelbar am Ende des Verfahrens vorgenommen wird. Zum einen bestimmt der Schulleitungsausschuss den Zeitpunkt der Publikation und zum anderen kann sie beim Vorliegen wichtiger Gründe von einer Publikation absehen. Dies soll aber eine Ausnahme bleiben.
Die Inhalte der Verfahren, deren Untersuchungsberichte nicht publiziert werden, werden wir in aggregierter Form im öffentlich zugänglichen Jahresbericht der IK aufführen. Damit geht für die Wissenschaftsgemeinschaft der Einblick in den Umgang mit diesen Fällen nicht verloren.
Wer nimmt Meldungen bei einem Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten bis zum Start der neuen Verfahrensordnung entgegen?
Bis zum 31. Mai 2024 kann man sich wie bisher an die Vertrauenspersonen wenden. Wir möchten uns bereits an dieser Stelle für die Arbeit der aktuellen und bisherigen Vertrauenspersonen bedanken, die über die Jahre eine sehr herausfordernde Aufgabe unter nicht optimalen Rahmenbedingungen zu bewältigen hatten. Ab dem 1. Juni werden dann die Meldungen von der Fachstelle wissenschaftliche Integrität entgegengenommen.
Weitere Informationen
- Download Neue Verfahrensordnung (gültig ab 1. Juni 20124) (PDF, 231 KB)
- Wissenschaftliche Integrität
- Richtlinien für wissenschaftliche Integrität
- Vertrauenspersonen