Ein paar Stunden draussen verbringen
Von 2017 bis 2022 war Francesco Corman Tenure-Track-Assistenzprofessor an der ETH Zürich. Anfang Januar 2023 wurde er zum ausserordentlichen Professor für Transportsysteme am Departement Bau, Umwelt und Geomatik befördert. In diesem kurzen Interview stellt er sich vor.
Herr Prof. Corman, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Beförderung! Wo liegen Ihre Forschungsinteressen?
Vielen Dank! Mein Forschungsschwerpunkt liegt auf Transportsystemen mit einem Rundumblick auf alle denkbaren Fortbewegungsmittel. Dabei konzentriere ich mich besonders auf öffentliche Verkehrsmittel, die in der Schweiz schon sehr gut angenommen werden. Verbesserungswürdig ist jedoch die Abstimmung mit privaten – insbesondere aktiven – Fortbewegungsmöglichkeiten wie Gehen oder Radfahren, wenn wir unsere Umwelt lebenswerter gestalten wollen.
Auch bei Flexibilität und Leistungsfähigkeit unserer öffentlichen Verkehrssysteme haben wir noch Luft nach oben. Manches – wie Fahrzeuge oder Infrastruktur – wird Jahre im Voraus geplant und ist mehr oder minder in Stein gemeisselt. Anderes ändert sich ständig. Zwischen diesen beiden Extremen ist es nicht leicht zu bestimmen, wann welche Ressourcen für den Mobilitätsbedarf der Menschen eingesetzt werden sollen. Um die richtigen Lösungen zu finden, nutzen wir eine breite Palette an Technologien, darunter Betriebsforschung (OR) und künstliche Intelligenz. Darüber hinaus vernetzen wir uns mit Forschungsgruppen in Mathematik, Informatik und dem AI Center.
Wie wirkt sich Ihre Forschung auf die Gesellschaft aus?
Wohnen Sie auf dem Hönggerberg? Wahrscheinlich nicht. Also mussten Sie entscheiden, wie Sie hier zum Campus gelangen, und waren entweder zufrieden oder unzufrieden mit den verfügbaren Möglichkeiten. Die Entscheidung für öffentliche Verkehrsmittel hängt stark von der angebotenen Qualität, ihre gesellschaftliche Akzeptanz von den Kosten ab. Eine ausgewogene Lösung zwischen diesen Faktoren muss ausserdem zur Praxis passen und begrenzte Ressourcen effizient einsetzen.
Beispielsweise sind Verspätungen oft ein Thema. Dabei handelt es sich jedoch nicht um zufällige Abweichungen, sondern um viele systematische Phänomene – etwa Stosszeiten – ebenso wie individuelle Gegebenheiten, die sich recht gut charakterisieren lassen, wie die durchschnittliche Wartezeit an Ampeln. Dann gibt es noch ungeplante und zufällige Ereignisse, die man aber sehr gut vorhersagen kann – beispielsweise das Wetter, Veranstaltungen oder Probleme andernorts im Netz. Die Verkehrsbetriebe steuern und ändern das System unter unseren Füssen fortlaufend, und wir merken es kaum. Und dann sind da noch die vielen Faktoren, die wir wirklich nicht beeinflussen können.
In der Praxis sieht man nur die Summe all dieser Elemente, und als Bürgerinnen und Bürger sind uns die meisten gar nicht bewusst. Für die Forschung gilt es, sie zu beziffern, zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen und möglichst Verbesserungen dafür zu identifizieren.
Wie sind Sie erstmals mit Verkehrssystemen in Kontakt gekommen?
Eigentlich über Umwege. Als Masterstudent wollte ich Computerwissenschaft und Optimierungstheorie praktisch anwenden. Dann ergab sich im Ausland die Chance, meine Masterarbeit über den Bahnverkehr zu schreiben – und so fing alles an.
Wo waren Sie tätig, bevor Sie zur ETH kamen?
In den Beneluxstaaten, wo ich zuletzt Analytics Consultant bei IBM war. Es hat gutgetan, im „echten“ Leben zu arbeiten, statt immer nur in der Wissenschaftsblase, in der wir uns wohl die meiste Zeit befinden. Dort habe ich auch viele praktische Probleme erlebt, die unsere schönen, sterilen akademischen Modelle meist einfach ignorieren.
Welche Kurse unterrichten Sie an der ETH?
Ich gebe Lehrveranstaltungen im Bereich des öffentlichen Verkehrs für Bachelor- und Masterstudiengänge sowie einen Kurs in Logistik, den wir dieses Semester überarbeiten. Dann gibt es verschiedene Kurse zum Transportwesen mit Strassenverkehrssystemen und Transportplanungsgruppen. Und ich begleite auch noch andere Lehrveranstaltungen, beispielsweise den Kurs zu aktiver Mobilität, der die Fortbewegung zu Fuss und mit dem Rad thematisiert. Mit dem Thema sind sehr viele verschiedene Aspekte verknüpft, die es zu berücksichtigen gilt.
Was tun Sie, wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben?
Wahrscheinlich meine To-do-Liste neu sortieren. Seit ein paar Monaten ist sie einfach immer zu lang. Wenn ich ein paar unverplante Arbeitsstunden hätte, würde ich wahrscheinlich trotzdem Daten analysieren und gedanklich verschiedenste Ideen durchtesten. Ich habe meine Kapazitäten zwischen meiner individuellen Forschung und der Leitung einer Forschungsgruppe etwas umverteilt. Aber wenn ich ein paar Stunden für mich hätte, würde ich sie draussen verbringen. Es gibt im Alltag und fernab davon so viele grosse und kleine wunderbare Dinge! Sie zu bestaunen und mich davon überraschen zu lassen, verleiht mir wahrscheinlich am meisten Energie. Allein im Wald nahe dem Campus kann man Unglaubliches entdecken. Das Gute an einer wissenschaftlichen Tätigkeit ist ausserdem, dass man viel lesen muss. Und das geht auch sehr gut unterwegs.
Was raten Sie Studierenden, die gerade in die Bauingenieurwissenschaften einsteigen?
Am besten ist die richtige Mischung aus fachspezifischen Kursen und Forschungsverfahren, die ihnen helfen wird, sich von der Masse abzuheben. Ich bin sicher, dass sie auf ihrem Fachgebiet eines Tages exzellente Expertinnen und Experten sein werden. Wichtig ist aber auch, die Dinge möglichst immer auch mit einem gewissen Weitblick zu betrachten. Oft beobachte ich, wie jemand sehr gut vorankommt – nur nicht in die Richtung, in die er oder sie eigentlich gehen wollte. In der Forschung lösen wir oft die falschen Probleme, dafür aber perfekt. Es braucht viel Übung und Energie, um wirklich zu überblicken, warum wir etwas tun und was wir eigentlich tun sollten.