Brüche sind etwas, das man in der Regel vermeiden will: Niemand bricht sich gerne den Arm, und Materialbrüche in Gebäuden oder Brücken können sogar lebensgefährlich sein. Für David Kammer hingegen sind sie ein Schlüssel, um tiefere Einblicke in die physikalischen Mechanismen von Materialien und Naturprozessen zu gewinnen. Als Assistenzprofessor für Rechnergestützte Mechanik von Werkstoffen am Departement Bau, Umwelt und Geomatik der ETH Zürich untersucht er, wie Brüche entstehen und sich ausbreiten – und wie man sie gezielt vermeiden oder kontrollieren kann.
Vom Kleinen bis zum Grossen
«Unsere Forschung deckt ein breites Grössenspektrum ab – von kleinsten Bestandteilen in Beton oder Fasern im menschlichen Körper bis hin zu tektonischen Platten, die bei Erdbeben eine Rolle spielen», erklärt Kammer. Dabei nutzt seine Forschungsgruppe vor allem mathematische Modelle, um den oft rätselhaften Eigenschaften von Brüchen auf den Grund zu gehen. «Diese Modelle sind recht simpel, berücksichtigen aber dennoch viele physikalische Prozesse gleichzeitig und erlauben uns dadurch einen tiefen Einblick und ein besseres Verständnis der Phänomene.»
Jeder Bruch beginnt mit einer Schwachstelle: Eine Stelle im Material gibt nach und löst eine Kettenreaktion aus, die zum Bruch führt. Wie das genau abläuft, hängt stark vom Material ab. In einem Gemeinschaftsprojekt mit Forschenden in den USA modellierte Kammer beispielsweise Kollagenfasern in menschlichen Knochen. Klinische Daten hatten gezeigt, dass Knochen von Menschen mit Typ-2-Diabetes anfälliger für Brüche sind als die von gesunden Menschen. Eine Hypothese war, dass bei Diabetes die Kollagenmoleküle im Knochen stärker vernetzt sind. Kammers Simulation bestätigte diese Annahme: Schon kleinste mikroskopische Veränderungen führen dazu, dass die Kollagenfasern spröder werden, was die Stabilität des Knochens erheblich beeinträchtigt.
Schneller als das Tempolimit
Sobald in einem Material ein Bruch entsteht, entscheidet dessen Ausbreitungsgeschwindigkeit über das weitere Schicksal des Materials. Kammers Simulationen bieten Erklärungen für scheinbar rätselhafte oder widersprüchliche Phänomene. So war unter anderem bekannt, dass Brüche, wie sie auch Erdbeben unterliegen, sich in bestimmten Materialien schneller ausbreiten als bisher angenommen. Normalerweise begrenzt die sogenannte Rayleigh-Geschwindigkeit – ein Tempolimit, dass sich aus physikalischen Gesetzen und Materialeigenschaften ergibt – die Bruchausbreitung.
Kammers Forschung zeigt jedoch, dass minimale Änderungen in den Annahmen diese Grenze aufheben können. Nimmt man an, dass die Verformung des Materials unter Belastung nicht linear, sondern leicht nichtlinear verläuft – dass also eine doppelte Kraft mehr als eine doppelte Verformung bewirkt –, dann kann sich der Bruch schneller ausbreiten als erwartet. Die zugrundeliegenden physikalischen Gesetze bleiben dabei unverändert. «Unsere Studien belegen, dass bereits eine geringe Nichtlinearität in den Materialeigenschaften ausreicht, um die Bruchgeschwindigkeit zu erhöhen», erklärt Kammer. «Dieses Ergebnis öffnet die Türen für viele weitere Fragestellungen in der Bruchdynamik.»