«Bauen im Einklang mit Natur und Mensch ist möglich»
Anlässlich seiner Beförderung zum ordentlichen Professor für Nachhaltiges Bauen am D-BAUG, haben wir bei Guillaume Habert nachgefragt, was ihn derzeit in der Forschung und Lehre umtreibt. Ausserdem verrät er uns, was für ihn die wichtigsten Dinge im Leben sind und was er tun würde, wenn er 53 Minuten mehr Zeit pro Woche hätte.
Professor Habert, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Beförderung an der ETH Zürich! Wo liegen Ihre aktuellen Forschungsinteressen?
Ehrlich gesagt suche ich nach Möglichkeiten, meinen Kindern funktionale Gebäude und Infrastruktur zu hinterlassen. Mit «funktional» meine ich, dass die Gebäude unseren Planeten ein Stück weit «reparieren», statt ihn zu zerstören, die Gesundheit ihrer Nutzerinnen und Nutzer fördern, statt sie zu vergiften, und wirtschaftlich wie baulich einer breiten Bevölkerung zugutekommen, statt die ungleiche Verteilung des Wohlstands und Reichtums zu verstärken. Hört sich utopisch an? Meine Arbeit besteht darin, das Gegenteil zu beweisen – zu zeigen, dass der Weg hin zu einer regenerativen Wirtschaft unsere zukunftssicherste, wirtschaftlichste und positivste Option ist.
Insbesondere konzentriere ich mich auf Materialentscheidungen und ihre gesellschaftlichen, ökologischen und wirtschaftlichen Folgen in ihrem jeweiligen Kontext.
Welchen «Impact» hat Ihre Forschung auf die Gesellschaft aus?
Ich würde mir sicherlich einen grösseren Impact wünschen! Manche Ergebnisse fliessen in neue Normen ein. Manche Materialentwicklungen werden von der Industrie oder neuen Start-ups aufgegriffen. Doch unser Einfluss ist zu gering und kommt angesichts des Klimanotstands und Gesellschaftskollapses viel zu spät. Für mich ist das ein echtes Dilemma in der Nachhaltigkeitsforschung. Einerseits geht es der Forschung darum, neues Wissen aufzubauen. Es ist nicht Aufgabe einer Forschungseinrichtung, dieses Wissen anzuwenden und eine gerechte, gesunde und respektvolle Gesellschaft zu schaffen. Dies obliegt uns als Gesellschaft. Andererseits stellt sich die Frage, ob wir wirklich neues Wissen brauchen, oder uns mit dem vorhandenen begnügen und damit den letzten Rest Natur und Menschheit bewahren sollen. Dieses Spannungsgefüge macht sich in meiner Arbeitsgruppe immer wieder bemerkbar. Wann ist der Zeitpunkt, die Forschung einzustellen und unsere Erkenntnisse an die Aussenwelt zu tragen, um damit etwas zu bewirken? Der Forschung sollte es meines Erachtens nicht darum gehen, sofortige Wirkung in der Gesellschaft zu erzielen. Ich meine eher, unsere Arbeit sollte für die nächsten fünf bis zehn Jahre relevant sein – sodass wir Industrie und Politik, die uns in fünf Jahren um Lösungen bitten, die heutigen Ergebnisse präsentieren können, statt ihnen zu neuen Forschungstätigkeiten zu raten.
Auf die Lehre wirkt sich unsere Arbeit durchaus direkter aus. In meinem Master-Wahlfach über Ressourcen für nachhaltiges Bauen zeige ich meinen 300 Studierenden echte, tatsächlich gebaute mehrstöckige Gebäude aus Stroh, Hanf, Stein oder Lehm – und habe das Gefühl, etwas zu bewirken. Nach ihrem Studium wissen sie so, dass respektvolles Bauen gegenüber Mensch und Natur möglich ist.
Wo waren Sie tätig, bevor Sie zur ETH kamen?
Ich habe in Paris an der Hochschule für Bauingenieurwesen, der École des ponts, als Forscher im Labor gearbeitet. Dort habe ich alles über Beton gelernt, denn eigentlich komme ich aus einer ganz anderen Ecke. Bis zu meiner Promotion beschäftigte ich mich nur mit Natursteinen und versuchte, die Erdgeschichte zu ergründen. Als studierter Geologe rechnete ich in Millionen Jahren und Hunderten Kilometern. Da empfand ich den Wechsel in die Bauingenieurwissenschaften als sehr erfrischend, wo Zeit und Raum in menschlichen Dimensionen begriffen werden.
Welche Lehrveranstaltungen finden Sie am spannendsten?
Am liebsten sind mir Veranstaltungen, in denen ich den Studierenden ganz einfache, aber für sie völlig unerwartete Dinge zeigen kann. So kann man Türen zu einer ganz neuen Welt öffnen. Doch, erdbebensichere, siebenstöckige Gebäude aus Strohballen sind möglich. Nein, das kostet nicht mehr als das, was wir aktuell massenweise bauen. Nein, das brennt, verrottet und stinkt auch nicht. Genau das gefällt mir, denn unter meinen vielen Studierenden werden ein oder zwei diese Gedanken aufgreifen, sich für die Materialien begeistern und sie bei ihrer Arbeit in der Praxis einsetzen.
Was machen Sie, wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben?
Kennen Sie «Der Kleine Prinz» von Antoine de Saint-Exupéry? In seiner Geschichte trifft er einen Händler, der höchst wirksame Durst stillende Pillen verkauft. Er sagt ihm: «Man schluckt eine Pille pro Woche und hat kein Bedürfnis mehr, zu trinken.»
«Warum verkaufst du das?», fragte der kleine Prinz.
«Das bringt eine grosse Zeitersparnis», sagte der Händler. «Experten haben dies berechnet. Man spart 53 Minuten pro Woche sparen.»
«Und was macht man mit diesen 53 Minuten?»
«Man macht damit, was man will ...»
«Was mich betrifft», sagte der kleine Prinz, «wenn ich mir 53 Minuten erspart hätte, würde ich gemütlich zu einem Brunnen gehen ...»
Ich bin nicht der kleine Prinz, aber ich sitze gern auf der Terrasse eines Cafés, trinke Kaffee, lese Zeitung und geniesse einfach die Zeit.
Haben Sie eine Lebensphilosophie oder ein Lebensmotto?
Die bekannte Wissenschaftlerin und Leitautorin von «Die Grenzen des Wachstums» Donella von Meadows schrieb: «Lernen ist wichtig, aber wir dürfen damit keine Zeit verschwenden.»
Ich mag den Gedanken, dass wir uns nicht in der Komplexität der Möglichkeiten verlieren dürfen, sondern immer das eigentliche Ziel im Blick behalten und uns fragen sollten, wie viel Komplexität bei unserer Arbeit nötig ist, um die wirklich wichtigen Fragen zu beantworten.
«An der ETH sollten Sie sich Regeln und Konzepte aneignen. Doch die eigentlichen Lösungen entspringen Ihrer Fantasie.»Prof. Guillaume Habert
Welches Buch oder welchen Film oder Podcast würden Sie Ihren Studierenden und Ihrem Kollegium zu Ihrem Forschungsgebiet empfehlen?
Es gibt einen Podcast von Aristide Athanassiadis über den Urbanen Metabolismus. Einige Folgen sind auf Französisch, andere auf Englisch. Er hat ausserdem alle Koryphäen dieses Fachbereichs interviewt. Wer also den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, philosophischen und technischen Hintergrund des «städtischen Stoffwechsels» verstehen und unsere Gesellschaft in eine bessere Zukunft führen will, sollte sich damit befassen.
Dominique Gauzin-Müller hat zahlreiche Bücher über das Bauen mit nachwachsenden Rohstoffen veröffentlicht. Das letzte über TerraFibra-Architektur zeigt anhand eines echten und glaubwürdigen Beispiels, wie respektvolles Bauen gegenüber Mensch und Natur aussehen könnte.
Als Film fällt mir «Don’t Look Up» mit Leonardo DiCaprio ein: Er beschreibt unsere absurde Welt erschreckend gut und wie schwer es ist, wirklich einen Wandel herbeizuführen. Das Ende würde ich meinen Kindern allerdings nicht wünschen.
Was raten Sie Studierenden, die gerade in die Bauingenieurwissenschaften einsteigen?
Seien Sie neugierig! Das meiste, was wir als Gesellschaft in den letzten 100 Jahren gebaut haben, ist eine Katastrophe. Aber die Regeln der Physik haben sich nicht geändert und werden es auch nicht. Die müssen Sie also kennen, um dann damit zu spielen. An der ETH sollten Sie sich Regeln und Konzepte aneignen. Doch die eigentlichen Lösungen entspringen Ihrer Fantasie.
Prof. Dr. Guillaume Habert (*1977) wurde im Juli 2023 vom ausserordentlichen Professor an der ETH Zürich zum ordentlichen Professor für Nachhaltiges Bauen am Departement Bau, Umwelt und Geomatik befördert. Guillaume Haberts Forschungsschwerpunkt liegt auf der Nachhaltigkeit von Gebäuden und Infrastrukturen. Ziel ist die Umsetzung nachhaltiger Baupraktiken mit innovativen Bautechniken und dem Einsatz nachhaltiger Materialien auf Basis einer detaillierten Analyse der technischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Situation. Seine Forschung hat bereits zu einem Spin-off, einer Software sowie Instrumenten im humanitären Sektor geführt. An der ETH Zürich ist es dem renommierten Forscher zudem gelungen, ein erfolgreiches Forschungsteam sowie ein umfangreiches Kooperationsnetz aufzubauen.